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Frei sein
von Michaela Thanheuser >>
Frei ist jeder Stein, der im Bachbett liegt, den das Wasser in seinem steten Fluss umspült und ihn zu seiner runden Beschaffenheit formt.
Frei ist der Specht, der im Baum seine Nahrung aus dem Stamm klopft und im Schutz der Höhe auf die Wurzeln blicken kann.
Frei ist das Korn im Wind auf dem Feld, wo es im gleißenden Licht der Sonne wachsen kann.
Frei ist kaum ein Mensch.
Unfrei macht sich der Mensch selbst.
Nur er kann sich verblenden und sich damit gegen sich selbst wenden.
Nur er kann intellektuelle Konstrukte schaffen, in denen er meint Logik zu entwickeln und anzuwenden und das Leben seiner Macht und Kontrolle zu unterwerfen.
Nur er kann nicht einfach „sein“ und muss sich gegen den Fluss stemmen.
Frei ist der Mensch nur, wenn er dem Fluss vertraut - wie alles Leben. In seinem Strom könnte der Mensch sich tragen lassen und jedes Ziel erreichen.
Doch er baut Mauern um den Fluss, weil es seine Vorstellung übersteigt, sich ihm anvertrauen zu können. So bindet er sich an Ängste und kettet sich an das, was er meint zu kennen: seine Vorstellungen und Interpretationen seiner kleinen Welt, gesehen durch seine beiden Augen, aber niemals in jener unerschöpflichen Facette, wie es tatsächlich ist. Diese begrenzte Welt kann niemals offen sein für einen mächtigen Fluss, sondern nur für Ströme, die ihn hinführen, wohin er subjektiv denkt.
Frei ist der Mensch, wenn er seine Ängste überwindet und sein Herz öffnet. Wenn das Licht sich in sein Innerstes senkt und es erfüllt, so wie jede Ähre erfüllt ist, jedes Reh und jedes Farn. Dann kann der Mensch wachsen, wie der Weizen auf fruchtbarem Boden, umschmeichelt und geborgen von einer Sonne, deren Strahlen seine Tiefen aus dem Dunkeln führen, ihn wärmen, hüten und leiten.
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