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Kreideherzen
von Marc P Sahli >>
Frühmorgens erwacht das Leben langsam an der Islami-Strasse in Pristina, mitten im Zentrum der Stadt, das als solches gar nicht zu erkennen ist, reiht sich doch bloss Sicht-Backsteinbau an Sicht-Backsteinbau, manchmal unterbrochen von weiss getünchten Mauern, ein Weiss, verwittert durch Umweltverschmutzung und Verkehr. Häuser hinter hohen Mauern mit vorgebauten Metalltüren, und nichts regt sich. Sogar die Fenster lugen leer wie traumatisierte Kinderaugen. An einer dunklen Metalltür sind krakelige Herzen aufgezeichnet, manche schon abgewischt, andere nur teilweise sichtbar. Fast übersieht man sie. Mir scheint, dass sogar die Luft den Atem anhielte. Am Telefonmast gegenüber klebt eine Traueranzeige: Arben Z, 27, ist vor zwei Monaten gestorben. Sind die Fenster deshalb dunkelleer und die Vögel schweigen im keimenden Frühling? Ob die Kreideherzen Arben gelten, als späte Liebeserklärung, als wohl nie wirklich ausgesprochene Zuneigung, entzieht sich meiner Kenntnis. Vielleicht interpretiere ich zuviel hinein. Die alte Frau, die aus der Türe hinaustritt, hat wässrige Augen. Ich gehe unauffällig weiter und höre meine verhallenden Schritte im sich ausbreitenden noch jungen Tag.
(2012)
15. August 2012 |
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