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Organ2/ ASLSP (John Cage)
von Marc P Sahli >>
Die Musiknoten schweigen, sind nur Druckerschwärze auf Papier - "Verlag Breitkopf & Härtel 1927“ - „Bärenreiter 1958“. Sie liegen nunmehr verlassen auf dem Stapel und Staub setzt sich unaufhaltsam fest, Staubschichten nach Geschichten befragen könnte ein Ansatz sein. Staubwischen auch. Bald wird die verwaiste Wohnung geräumt wer-den. Kürzlich starb meine zweite und somit letzte Klavierlehrerin, und ich fühlte, wie mir meine Töne abhandenkommen. Töne verhallen, wie Erinnerungen auch. Der Bub, der mit leuchtenden Augen die Tasten des Spinetts anschlug, der Jugendliche, der seine Ansicht von Bach gegenüber der Lehrerin vertrat und sie streng sagte: „So spielt ein Sahli aber nicht, schau, probier es mal so“, und die Worte dankbaren Nährboden fanden.
Heute spiele ich selbst nur noch in homöopathischen Dosen und die Noten setzen auch bei mir Staub an. Was bleibt, sind die Bleistiftanweisungen und Bewertungen der Lehrerin "sehr schön – 6" auf dem vergilbenden Papier, „Kleine Finger am Klavier“, 1981. Die Musiknoten auf Papier sind Druckerschwärze - „G. Henle Verlag 1972“ - und schweigen mich an. Wer haucht ihnen nun Leben ein?
Wer, wenn nicht ich, der sich an die Stunden erinnert an die Anweisungen der Lehrerin? Weitertragen. Ich werde auf Einladung des Sohnes Notenbücher und -hefte auswählen gehen. Töne weitertragen, wie das längste Musikstück der Welt, komponiert von John Cage. Auf 639 Jahre ist es angelegt und spielt seit 2001. Viele Leben und viel Staub bis 2640.
6. April 2020 |
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