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Kurzgeschichten > Menschen

Ich fahre in den Park, Küsse, Rahel S.

von Marc P Sahli >>

Rahel S. Geht jeden Tag in den Park zum Vögel füttern. Ob sie jemandem auf dem Küchentisch einen solchen Zettel wie eben im Titel zitiert hinterlässt, weiss ich nicht. Sie ist immer zur gleichen Zeit und pünktlich bei der Thuja-Allee, wie wenn sie arbeiten gehen müsste. Pensioniert ist sie längst. Gearbeitet hat sie eigentlich nur im KZ, Mädchen reicher russischer Juden. Sie kam frei und danach musste sie sich durchschlagen, alles war weg. Auf Restitution an-gesprochen reagiert sie nicht; fast abwesend meint sie nur, dass die Vögel es besser hätten als Viele damals. Vögel täten niemandem etwas zu Leide, im Gegenteil: sie sängen immerzu zu unserer Freude, brummelt sie. Und tatsächlich deucht mich, dass die Vögel zwitscherten, mitten im Januar bei minus 15 Grad. Ihre dürre Hand ausstreckend zeigt sie auf die Futterhäuschen an Thuja, Hasel und Birke; hätte sie alles selbst gemacht. Beim genauen Hinsehen sind die Futterstationen bloss aufgeschnittene Tetrapackungen und Pet-Flaschen, die wie abstrakte Kunstwerke in den Ästen hänge und sich im Rhythmus des Windes bewegen.

Später lese ich die Zeitungen und darunter einen Artikel über die Briefe von Heinrich Himmler, den Organisator der Judenmorde. In einem der Briefe an seine Frau schreibt er: “Ich fahre nach Auschwitz. Küsse, Dein Heini.” Eigentlich ein harmloser Satz, wenn das Wort Auschwitz nicht stünde. Es macht glauben, dass Krieg ein 08/15 Job sei, man von 8 bis 17 Uhr arbeite und dann wieder zuhause die Familie in die Arme schlösse. Eine widerliche Normalität im abstossenden Ausnahmezustand. Wie ich schon sagte, gewöhnt sich der Mensch an vieles. Vielleicht hatte Rahel sich damals als Kind auch gewöhnt.
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