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Schicksalszug (Anfang)
von Sajotkatta >>
Lautlos wirbelten die Schneeflocken an den Fenstern des fahrenden Zuges vorbei; überschlugen sich an den kalten Scheiben und stürzten dann wieder hinaus in die einbrechende Dunkelheit. Vereinzelte, kristallene Sternchen blieben an dem beschlagenen Glas hängen und schimmerten dort wie gefrorene Tränen.
Ich fröstelte, schlang meinen dicken Wollschal noch enger um meinen Hals und atmete seinen vertrauten Duft tief ein. Er roch nach zu Hause – sosehr, dass ich beinahe schon glaubte, bereits dort angekommen zu sein.
Apfelkuchen, dachte ich. Mum würde einen Apfelkuchen vorbereitet haben, genau wie jedes Jahr. Ich konnte beinahe schon schmecken, wie der süsssaure Geschmack meinem Gaumen schmeichelte; wie ich auf die weichgebackenen Rosinen biss und mir aus lauter Gier die Zunge verbrannte.
Mit einem metallenen Kreischen kam der Zug in einem kleinen Ort zum Stehen. Die dicke, alte Frau, die sich so verbissen an ihrem geflochtenen Weidenkörbchen festgeklammert hatte, stemmte sich mit einem leisen Ächzen auf die Füsse und liess mich einer leeren Sitzbank gegenüber. Mit einem betont genervten Schnauben stellte ich die Lautstärke meines mp3-Players auf ihr Maximum, als drei Gören in rosa Steppjacken an mir vorbeitrampelten, eine schlammige Spur auf dem ohnehin schon ziemlich schmutzigen Zugboden hinterliessen und einen geradezu schmerzhaft gemütlichen Weihnachtsmarktduft mit sich brachten. Glühwein, gebrannte Mandeln, Magenbrot und Zuckerwatte füllten alle auf einmal meine Gedanken und erinnerten mich mit unnötiger Heftigkeit an meinen knurrenden Magen. Erschöpft liess ich meinen Kopf gegen die Rücklehne des Sitzes krachen und schloss die Augen.
Ich konnte all diese überglücklichen, unbekümmerten Gesichter nicht mehr sehen.
„Ist hier noch frei?“
4. Mai 2010 |
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