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Lucile II.
von van Hengel >>
Früher habe ich dich dafür gehasst. Weißt du noch? Im Stillen habe ich dich eine Egomanin genannt, eine arrogante Misanthropin, die alles andere, alle anderen, mit einer verletzenden Gleichgültigkeit verachtete, einzigartig in ihrer Kälte; und ich habe gehofft, ja eigentlich nur darauf gewartet, dass du in dem Blut der Wunden, die du anderen zugefügt hast, bald ertrinken wirst. Ich konnte dich dann, manchmal tagelang – einmal sind es sogar mehr als zwei Wochen gewesen – weder sehen noch um mich haben, bis endlich ein liebes Wort oder eine einfühlsame Geste von dir kam und der Zorn verflogen war. Ich glaube, wir haben nie darüber geredet. Doch irgendwann habe ich bemerkt, dass du nicht mich verachtet hast, sondern das Gerede der Leute um dich herum. Von da an habe ich für dich keine Zukunft mehr gesehen – außer als Künstlerin.
Die Kunst wird die einzige Chance für sie sein zu überleben, habe ich damals gedacht. Kannst du dir vorstellen, wie schwer du es uns, besonders mir, gemacht hast: Wie sollten wir dich verstehen
und das alles nachempfinden können, wenn du es selbst nicht einmal wusstest?
Sobald man sich von seiner Vernunft abzulösen versucht, damit beginnt, alle Wahrheiten in sich anzuzweifeln, oder sich darüber zu wundern, dass es sie überhaupt gibt, wird die normale Einstellung gegenüber den Dingen mürbe. Man kann dann nicht so sein wie andere und nicht so tun, als wäre alles beim alten. Es geht tiefer, rührt, rumort, rüttelt in einem, sitzt wie ein Virus in den Knochen, im Fleisch, in der Seele, irgendwo, man weiß es nicht, weiß nicht wo, kann es nicht lokalisieren. So ist man (du) andauernd getrieben, angetrieben, umgetrieben, hin- und hergetrieben zwischen |
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