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Die Macht der Sehnsucht
von PS: >>
Paul, 27, steht auf einer Dachterrasse irgendwo in Ostberlin und raucht. Er liebt diesen Ort. Von hier oben sieht er den Westen. Es scheint, als könne er hier am prallen Leben jenseits der Mauer ein bisschen teilhaben. Freiheit statt Gefängnis. Spass und Unterhaltung anstelle Vorträge alter Sozialisten. Riesige Shoppingcenter anstelle der trostlosen Quartier-Läden. An einem Novemberabend im Jahr 1989 ist es soweit. Paul steht mit vielen hunderten Ostdeutschen an der Grenze und wartet bis die Idee vom Sozialismus ihr Ende nimmt.
Paul, 47, sitzt vor dem Fernseher und schaut sich die Feierlichkeiten zum Mauerfall vor zwanzig Jahren an. Nein, er möchte den Sozialismus nicht zurück. Und ja, er hat einige gute Jahre in der freien Welt verbracht. Nur, was wurde aus seinen Träumen? Gerade jetzt, wo der Kapitalismus sich selbst feiert, zeigt er sein hässliches Gesicht. Paul macht den Fernseher aus und liest nochmals den Brief, den er heute von seinem Arbeitgeber erhalten hat. «Sehr geehrter Herr Friedrich...».
Ostdeutschland hatte gemeinsam Sehnsucht. Es existierten ganz bestimmte, durchwegs positive Vorstellungen vom Leben im Westen. Ein ganzes Volk sehnte sich nach Veränderung. Nur, die Diskrepanz zwischen Sehnsucht und Realität ist oftmals riesig. Aber sollte deswegen auf die Sehnsucht verzichtet werden? Wäre das überhaupt möglich? Nein. Sehnsüchte halten uns lebendig. Sehnsüchte mobilisieren ungeahnte Kräfte. Sehnsüchte haben zu grossen Veränderungen beigetragen.
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