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Der Aufstieg
von Simon Stalder >>
Fünf Uhr morgens. Er war wach, lange bevor das dezente, immer lauter werdende Pfeifen seines Mobiltelefons ihn wecken sollte. Die ganze Nacht schon hatte er schlecht geschlafen. Er war aufgeregt. Nervös. Er war sonst nie nervös. Er hatte nie Schlafstörungen. Um halb sieben wurde er geweckt, normalerweise. Heute aber war er aufgeregt. Die ganze Nacht schon. Und als er aufstand, wusste er, das erste Mal seit Jahren, nicht, was der Tag bringen würde. Er wusste nur, was er nicht bringen würde. Er würde nicht, wie üblich, um halb acht im Büro sein, die wichtigsten Geschäfte des Tages schon sortiert auf dem Stehpult liegend. Er würde nicht im Baudelaire essen gehen. Auch nicht zum Türken um die Ecke, wie sonst einmal wöchentlich. Nein, heute würde er Sandwichs essen. Jene kleinen Brötchen, die ihm seine Mutter vor Jahren jeweils zur Schulreise gestrichen hat. Helle, weiche Brötchen mit Schweinsbraten oder Gewürzschinken und einer Essiggurke. Die Brötchen hatte er gestern schon gestrichen, und eingewickelt in Frischhaltefolie. Er wollte gleich los heute morgen. Jetzt aber sass er in Wanderschuhen und mit seiner alten Baseballmütze in der Küche, wartete auf den ersten Bus. Und dachte nach. Dabei wollte er heute gerade das nicht: denken. Er versuchte, sich mit alten, halb zerrissenen Magazinen und Werbeprospekten abzulenken. Den Bitte-Keine-Werbung-Aufkleber hatte er vom Briefkasten gekratzt, als er eingezogen war. Werbung, sagte er immer, ist das beste Mittel, den Anschluss nicht zu verpassen. Heute sah er nur das hübsche Model mit den knappen Jogginghosen und den kleinen Jungen, gestellt lächelnd neben dem neuesten Laptop. |
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