Kurzgeschichten > Gesellschaftskritisches |
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Wer hat die Deutungshoheit über wahr oder falsch? Wenn alle sich nur noch an ihre simplen Dogmen krallen, schwindet die Dialogbereitschaft. Die Gespräche zwischen ihr und ihrem Otto sind am Versiegen, ihre Liebe wohl auch, stellt sie einerseits fest und befürchtet das andere. Früher diskutierten und stritten sie, hatten die nötige Geduld, die Zeit, die Gedanken sich setzen und reifen zu lassen, die Zeit, Kompromisse zu finden und zu leben. Heute bleibt wirkliche Auseinandersetzung auf der Strecke, nicht nur bei ihnen. Ablenkung feiert im galoppierenden Sekundentakt die Enterung unserer Aufmerksamkeit; so bildet sich keine Meinung mehr, sondern nur noch Schlagzeilen, Vorurteile. Von Schlagzeile zu Schlagzeile…ein einziger Klick zuviel und du bist in der Bubble gefangen. Und merkst es nicht. Die schweizerisch demokratische Langsamkeit, eigentlich ein uraltes Korrektiv gegenüber digitaler Fake-News, durch e-Voting beschleunigen zu wollen, ist ein falscher Weg. Auch darum, damit der Staat nicht sieht, was am heimischen Stubentisch gemauschelt wird, oder nicht. Schlussendlich ist Demokratie doch nur der Zug, auf den man aufspringt, um seine Ziele zu erreichen, oder so ähnlich, sinniert Erika.
Erika atmet tief durch, dreht sich um und geht zurück in die Küche, sieht ihren Otti, wie er den Stimmzettel krampfhaft festhält, holt mit ihrer Hand aus und entreisst ihn dem verdutzten Öttu, der sie mit halboffenem Mund anstiert. Erika lacht laut auf mit leicht höhnischem Unterton und zerreisst den Zettel vor Ottos stierenedem Grind, der bloss denkt: «du blöde Suffragette, du», und hofft, dass seine Gedanken nicht gelesen werden können.
S.L.: die Vorkommnisse zur Kantonsratswahl ZH hatten kein jur. Nachspiel.
(c) Marc P Sahli
19. April 2019 |
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