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Der Lieblingsraum
von Marc P Sahli >>
Als mich jemand fragt, was mein Lieblingsraum in meiner Kindheit war, muss ich lange nachdenken, als einer, der im Kindergartenalter aus seiner gewohnten Umgebung herausgerissen wurde, ja wie eine Pflanze, und an einem neuen Ort wieder eingepflanzt wurde. Wirklich Wurzeln schlagen konnte ich wohl nie. Auch im neuen Dialekt nicht und ich behielt mein Berndeutsch bei. Vielleicht entwickelte ich Luftwurzeln, einer Orchidee ähnlich, und war später im Leben deshalb überall gerne, wo ich mich jeweils gerade befand, sei es in Moskau, Tripolis oder Pristina, weil ich nie wirklich neue Wurzeln schlagen konnte oder wollte. Einerlei war es mir zwar nie. Ich sage immer: ich könnte morgen nach Pjöngjang oder Kabul gehen, ich wäre wie ein Fisch im Wasser ab der ersten Sekunde. So war es jedenfalls bei meinen Aufenthalten in den vorgenannten Städten.
Meine Gedanken schweifen nun ab. Ich wurde eben gefragt, was mein Lieblingsraum in meiner Kindheit war. Nun, was sind Räume? Gebäude? Kann Natur auch ein Raum sein? Plötzlich finde ich mich im Dorf meiner Jugend, wo ich im Sommer zwischen vor Hitze flimmernder Luft mit dem Fahrrad fuhr, und anhielt an der Scholle, der Grasnarbe, beim trockenen, wogenden Kornfeld, das nach Kamille, Schafgarbe und Stiefmütterchen roch und ich eben jene sammelte, um zuhause Tee davon zu kochen. Ein Geschmack einer Kindheit, einer Jugend. Der krautige, heisssüsse Geschmack, ja er ist auch etwas trocken-blumig, kommt mir in Bern bei einer vordergründig so einfachen Frage in den Sinn. Ein Erinnerungsduft unbeschwerter Jugend. |
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