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Nietzsche: Beinahe Berührung
von francois celavy >>
Beinahe Berührung
Derrida nimmt seine Kamera zur Hand und hält sie auf einen Menschen mit Schnauzbart. Er dreht am Objektiv. Näher hätte er diesem Mann nie kommen können, so versteckt hinter der Linse, so stechend dieses dunkle Braun seiner Augen und so tief hinein, bis fast auf den glasklaren Grund seiner Seele.
Der Mann mit den tiefen Augen war Nietzsche. Wirklich? Er litt, wie es schien, an den allzu feinen Zügen seines Gesichts. Und an der Angst, die sein tiefer Blick dem anderen machte. Und er litt darunter, sich ständig Gedanken zu machen über Gott und die Sehnsucht, über die Lust am Lästern und die Vergeblichkeit des Denkens überhaupt. Er litt halt gern. Verdammt gern, wenn er ehrlich hätte sein müssen, ehrlicher als er es ohnehin schon war.
Also konnte Derrida ihm nur mit einer Kamera nahe kommen. Sie liebten sich eh schon lange, auch wenn Nietzsche noch nichts davon wusste. Vielleicht wollte er auch nichts davon wissen. Weil er mit Liebe so seine Schwierigkeiten hatte. Das aber spielte jetzt keine Rolle. Jemanden nicht vereinnahmen wollen und dennoch ganz nahe bei ihm sein, ihn nehmen und doch ganz bei sich lassen, bei sich haben und verausgaben in einem – das war seine Liebe: sie zittert heute immer noch nach, wie etwas Unmögliches.
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