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Kurzgeschichten > Alltag

MORGENZEITUNG

von Vismara Rudolf >>

Jeden Morgen nach dem Frühstück mache ich mich auf zur Endstation der Strassenbahn, um mir dort aus einem der vielen blauen Kästen, wie sie an allen Stationen stehen, die Zeitung zu holen.
Es gibt auch bei der in der Nähe gelegenen Haltestelle eine solche Zeitungsbox, doch die ist zu der Zeit längst schon leerge-
plündert. Von Strassenbahnbenützern und selbstverständlich von Strassenbahnbenützerinnen, die bereits Stunden zuvor an die Arbeit fuhren, und so muss ich gezwungenermassen den
längeren Weg unter die Füsse nehmen, doch der Gang dort hinauf ist mir inzwischen zu einer - wenn auch nicht gerade lieb-
gewordenen - Gewohnheit geworden.
Heute sah ich auf der Höhe der Bank einen stehen und ich stellte mir sein schmerzverzerrtes Gesicht vor, obwohl ich es nicht sehen konnte, denn der Ärmste kehrte mir den Rücken zu, doch an seiner Haltung nahm ich an, er müsse an fürchterlichen Zahnschmerzen leiden. Immerfort hielt er die linke Hand an seine Wange und Ohr, während er mit seiner Rechten konvulsi-vische Bewegungen vollführte. Ich näherte mich ihm und als ich einige Schritte hinter ihm stand, bemerkte ich meinen Irrtum, denn der wahre Grund, weshalb er seine Hand an Wange und Ohr hielt, war einer dieser modernen Kommunikationsapparate und während mein menschliches Mitgefühl, das ich auf den letz-ten Metern aufgebaut hatte, brutal in sich zusammenfiel, über-holte ich ihn links und dachte, vielleicht telefonierte er doch mit seinem Zahnarzt?

1. Juni 2012
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