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DER OHRENZEUGE
von Vismara Rudolf >>
Manchmal werde ich Zuhörer eines Gesprächs, das mir völlig fremde Menschen führen, und je mehr ich versuche, mich nicht dafür zu interessieren, umso intensiver horche ich hin, und meine Phantasie beginnt sich mit diesen Menschen zu
beschäftigen und ich denke, dass auch andern Menschen sowas passiert, oder ist das nicht so?
Und da sagte doch neulich im beinahe leeren Anhänger der Strassenbahn, in der ich spätabends nach Hause fuhr, während draussen die Novemberstürme tobten und die Graupelschauer an die Fenster klatschten, eine weibliche Stimme hinter mir: "Diese Woche hatte ich doch schon vier Herzinfarkte".
Es klang keineswegs leidend, aber mein Interesse war geweckt, denn wer lernt schon einen Menschen kennen, der sowas überlebt hat? Ich hätte mich gerne umgedreht, um mir dieseFrau anzusehen. Aber das schickt sich nicht und da sagte bereits eine andere Stimme, die etwas älter klang: "Und ich hatte letzte
Woche drei Frühgeburten".
Das war dann doch zuviel, denn selbst ich als Mann weiss, dass sowas unmöglich ist und dem weiteren Verlauf des Gesprächs, dem ich, - immer noch ungewollt, - aber mit steigendem Interesse folgte, konnte ich entnehmen, dass sich hier lediglich zwei Menschen völlig Alltägliches aus ihrem Arbeitsleben erzählten, das nunmal aus Magendurchbrüchen, Herzstillständen, Totgeburten und vielen anderen Ereignissen besteht, die oft auch mit Begriffen in lateinischer Sprache bezeichnet werden,und ich war erleichtert, als wir endlich an meiner Station angelangt waren. Beim Hingehen zur Tür, wäh-
renddem ich besorgt die hin- und herschwankenden Strassen-lampen draussen zwischen den sich biegenden Baumwipfeln
beobachtete und bedenklich meinen nicht gerade stabilen Schirm musterte, hörte ich noch, - ohne mich umzuschauen -,
die ältere Stimme |
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