| Kurzgeschichten > Alltag |
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sie nicht, dass Rainer seit über einer halben Stunde weg war. Die übliche, optische Prüfung kommentierte sie mit den Worten:“Engelstränen, süß und sonnig laufen sie am Glas hinab. Dieser Wein hat sicher kaum noch Restsüße.“
Sofort taten es ihr die drei Personen gleich und fällten fast zufällig das gleiche Urteil. Für das Bukett ließ sie sich Zeit, denn ihre Beurteilung sollte alle zum Staunen bringen. Mit versonnenem Blick atmete sie das Aroma ein, dass sie zur Antwort inspirierte.
„Hier spürt man den Kies zwischen den Reben, das Gras, das die Weingärten miteinander verbindet und das Zedernholz der Rankhilfen. Liegen hier nicht dezente Spuren der Ledersohlen der Küfer vor? Der Boden lebt. Woher kommt die Tinte? Sicher doch, Bordeaux liegt am Meer und Tintenfische spritzen gerne mal aus Übermut. Das hier nicht nur der Wein mit der Hand verlesen wird,sondern auch sonst noch natürlich gearbeitet wird zeugt auch vom zarten Pferdeuringeruch der schweren Percherons. Maschinenöl und Teergeschmack, wie beim Calon-Segur gehört hier nicht hin. Was hält der Geschmackssinn wohl für uns bereit?“
Mit Genießerblick führte Anja das Weinglas zum Mund, ohne auch nur die Lippen mit dem Inhalt zu benetzten. Kauend und beißend rollte sie den nicht vorhandenen Wein im Gaumen hin und her. Alleine schon das Erwähnen der Exkremente erzeugte ein Unbehagen in ihrem Magen. Gespannte Blicke ruhten auf ihr.
„Hier schmeckt man ganz deutlich die Lagerung der 40% des Ertrags in neuen Barrique-Fässern. Das steht diesem Jahrgang sehr gut. Leichter Gout nach Backpflaumen, sowie Waldbeeren und Vanille sorgen für eine gewürzte Balance. Der Tanningehalt wird sich zu Gunsten der Cassisbeeren verlieren. Nicht brennend oder alkoholisch warm sitzt er am Gaumen. Mein Urteil: Trinken oder lagern.“
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